Deutschlands Wirtschaftspolitik macht deutlich, was Außenpolitik nicht sein sollte
Deutschlands Wirtschaftspolitik macht deutlich, was Außenpolitik nicht sein sollte
War & Peace (Season 5)
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Op-Ed / Europe & Central Asia 9 minutes

Deutschlands Wirtschaftspolitik macht deutlich, was Außenpolitik nicht sein sollte

Wie kann sich Europa als ein mächtiges Bündnis behaupten, das bereit ist, traditionelle Machtinstrumente gegebenenfalls auch militärische Gewalt einzusetzen, und gleichzeitig ein Machtkonzept zu vertreten, das diesen Schranken setzen soll? Europa muss eine schwierige Gratwanderung meistern: Es muss einerseits seine eigenen Werte und Grundsätze verteidigen, und andererseits seine Diplomatie gegenüber neuen Mächten öffnen.

Welcher Staat würde die Bürger anderer Länder – selbst enge Verbündete – fragen, was mit seiner Außenpolitik nicht stimmt? Wahrscheinlich ist es etwas Einmaliges, dass Deutschland diese provokative Frage gestellt hat.

Dies kann als Zeichen von Selbstbewusstsein und demokratischer Offenheit gewertet werden oder aber als Ausdruck tiefer Verunsicherung, so als wäre sich Deutschland mehr als 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer nicht sicher, ob es seine Interessen rechtmäßig geltend machen darf, und müsste dafür die Zustimmung seiner Freunde und Verbündeten einholen. Diese Frage sagt in der Tat viel darüber aus, was richtig ist in der deutschen Außenpolitik und was gelegentlich schief laufen könnte.

Deutschland macht sich um die Legitimität seiner Außenpolitik wahrscheinlich mehr Gedanken als alle anderen Länder der Welt: zum einen um die innere Legitimität, die eine Unterstützung durch das Parlament erfordert, was bisweilen das Risiko birgt, dass in einer Krise erst spät gehandelt wird; zum anderen um die äußere Legitimität, die erfordert, dass die deutsche Außenpolitik nicht nur internationalen Normen entspricht, sondern auch von der internationalen Gemeinschaft weitgehend akzeptiert wird.

Deutschland macht deutlich, was Außenpolitik nicht sein sollte, und diese Deutlichkeit könnte in der laufenden Debatte über eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik äußerst hilfreich sein. Sie schafft die Basis für eine Politik, die durch Institutionen gründlich legitimiert ist und sich auf einen von Grundsätzen geleiteten außenpolitischen Ansatz stützt.

Dies ist zweifellos eine akzeptablere Grundlage für einen außenpolitischen Konsens der Europäer als eine eng gefasste realpolitische Analyse ihrer strategischen Interessen, die vielen EU Mitgliedern unangenehm wäre.

Die deutsche Wirtschaftspolitik dominiert

Aber reicht solch eine negative Definition von Außenpolitik aus? In der Außenpolitik geht es auch um innerstaatliche Interessen.
Was die Verteidigung seiner eigenen Wirtschaftsinteressen betrifft, ist Deutschland nicht zurückhaltend: Sowohl mit Blick auf die Handelsbeziehungen zu China als auch in Bezug auf Waffenexporte stellt es seine Wirtschaftsinteressen bisweilen über andere politische Erwägungen, als müsse sich die Außenpolitik der Wirtschaftspolitik unterordnen.

Doch nicht nur Deutschland, auch die drei engen Verbündeten Frankreich, das Vereinigte Königreich und die USA verfolgen diesen Ansatz. Aber da Deutschland im friedens- und sicherheitspolitischen Bereich weniger aktiv ist und nicht so sehr auf die Durchsetzung strategischer Interessen pocht, fällt es stärker auf, wenn seine Wirtschaftspolitik mit seinen öffentlich erklärten Grundsätzen kollidiert.

Im Wirtschaftsbereich spielt Deutschland tatsächlich eine führende Rolle. Es hat die europäische Antwort auf die Eurokrise entscheidend geprägt und damit den Groll einiger Schuldnerländer auf sich gezogen. So wurde die anti-deutsche Stimmung in manchen Teilen Europas angeheizt. Es wird allgemein angenommen, dass dies ein weiterer Grund dafür ist, dass Deutschland sich in friedens- und sicherheitspolitischen Angelegenheiten zurückhält.

Manche Beobachter sind der Ansicht, dass es zu einem Sturm der Entrüstung gegen Deutschland kommen würde, wenn das Land nicht nur den Ton in der makroökonomischen Politik Europas angeben würde, sondern auch die wichtigsten Elemente der EU Außenpolitik maßgeblich beeinflussen würde. Für Deutschland wird es jedoch immer schwieriger, sich einerseits aktiv im wirtschaftlichen Bereich zu engagieren und andererseits recht passiv in friedens- und sicherheitspolitischen Angelegenheiten zu agieren. 

Der erste Grund dafür ist, dass kein Land in Europa, außer vielleicht Deutschland selbst, die Ressourcen hat, eine Führungsposition allein zu behaupten. Zweitens macht der zweiseitige Ansatz Deutschlands – aktiv im Wirtschaftsbereich, weniger engagiert im Sicherheitsbereich – die wirtschaftliche Führungsrolle Deutschlands für seine europäischen Partner in keiner Weise akzeptabler und leistet der Kritik Vorschub, Berlin werde zu einem Trittbrettfahrer, der nur an seinem eigenen wirtschaftlichen Wohl interessiert sei. Drittens – und das macht die Krise in der Ukraine gerade sehr deutlich – kann es in einer Welt, in der die Währung der Macht nicht nur militärischer, sondern auch wirtschaftlicher Natur ist, keine Strategie geben, die ausschließlich wirtschaftlich oder ausschließlich militärisch ist. 
Eine wirkungsvolle Außenpolitik muss alle verfügbaren Instrumente – sowohl politische als auch wirtschaftliche und militärische – in sich vereinen. Dies zu berücksichtigen bedeutet für Deutschland nicht zwangsläufig eine Rückkehr zu Bismarck!

Europa muss mehr Verantwortung übernehmen

Obwohl die Ukraine-Krise an den Kalten Krieg erinnert, zeigen die Fragen, die sie aufwirft, wie sehr die Welt sich seit 1989 verändert hat. Über 50 Staaten enthielten sich in der Abstimmung der Vereinten Nationen über eine Resolution zur Verurteilung der Annexion der Krim. Doch diese Neutralität unterscheidet sich sehr von der Neutralität oder Blockfreiheit im Kalten Krieg.

Zu den Staaten, die sich enthielten, zählen die meisten Schwellenländer, deren Volkswirtschaften einen entscheidenden Beitrag zum weltweiten Wachstum leisten und unverzichtbare Partner für die "alten Volkswirtschaften" Europas, Japans und Nordamerikas sind. Auf der internationalen Bühne stehen sie nicht mehr in der zweiten Reihe; sie sind die treibende Kraft des weltweiten Wachstums.

Für die Europäer mag die Ukraine-Krise ein entscheidender Moment sein; für viele Länder in anderen Regionen der Welt ist dies jedoch nicht der Fall. Gerät Europa nun aber in einen kostspieligen Sog aus Sanktionen und Gegensanktionen und konzentriert sich zu Lasten seiner sonstigen weltweiten Verpflichtungen auf seine unmittelbaren Sicherheitsinteressen, könnte seine Stellung in der Welt dadurch weiter an Bedeutung verlieren.

Während des Kalten Krieges war Europa der politische Nutznießer der geostrategischen Konfrontation: Die europäischen Länder befanden sich in ihrem Zentrum, waren aber nicht die Hauptakteure. Diese Rolle kam den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zu.

So konnten Länder wie Frankreich und Deutschland gute Verbündete der USA sein und gleichzeitig ihren eigenen Geschäften am Rande des zentralen Konflikts nachgehen: Frankreich verfolgte Charles de Gaulles Politik der Unabhängigkeit und Deutschland Willy Brandts Ostpolitik. In beiden Fällen wurden bedeutende Ergebnisse erzielt, die jedoch nicht möglich gewesen wären, hätten die Vereinigten Staaten nicht die Voraussetzungen geschaffen. Die heutige Welt sieht anders aus. 

Europa ist verletzlich, sieht sich aber keiner existenziellen Bedrohung gegenüber, die die ganze Welt in Mitleidenschaft ziehen würde. Es gibt Bedrohungen, die Europa schwächen können, es aber nicht zerstören würden. Außerdem ist den Europäern bewusst, dass ihre Zukunft nicht von den in Washington getroffenen Entscheidungen bestimmt wird, auch wenn die transatlantische Partnerschaft strategisch bedeutend bleibt. Doch gerade weil eine Katastrophe heutzutage unwahrscheinlich ist, muss Europa mehr Verantwortung übernehmen. 

Da Deutschland das erfolgreichste unter den europäischen Ländern ist und sich an der Schnittstelle der globalen und regionalen Herausforderungen für Europa befindet, muss es eine besondere Rolle in dieser Entwicklung spielen. Alle anderen europäischen Länder warten darauf – zum einen aus Opportunismus, weil sie selbst keine Verantwortung übernehmen wollen; zum anderen, weil sie wissen, dass sie ihr eigenes Leitbild erst dann bestimmen können, wenn Deutschland seines formuliert hat.

Die europäische Nachbarschaft als sicherheitspolitische Herausforderung

Die Krise in der Ukraine wird Deutschland dazu zwingen, eine Reihe politischer Strategien, die oftmals einzeln verfolgt wurden, in einer einzigen Strategie zu bündeln: Dazu gehören seine makroökonomische Politik in der EU, seine Erweiterungspolitik, seine Russlandpolitik, seine politisch-militärische Strategie und seine Handelspolitik.

Obwohl die europäischen Volkswirtschaften und insbesondere die deutsche zunehmend mit der Weltwirtschaft verflochten sind, wurden die politischen Folgen dieser wachsenden Integration häufig ausgeblendet – als ob Handel die politischen Gegebenheiten ignorieren könne. Diese Isolierung einzelner Politiken funktioniert nicht mehr.

Das Verhältnis zu Russland und die verschiedenen politischen Ansätze in Mitteleuropa lassen sich nicht von einer globalen Betrachtungsweise der Weltordnung trennen. Das Thema Gas ist ein gutes Beispiel dafür: Würde eine engere Verbindung zwischen Russland und China entstehen, wenn Europa weniger Gas aus Russland importieren würde? Würde dies die Position Irans stärken? Auch die Erweiterungspolitik der Europäischen Union, auf die Deutschland maßgeblich einwirkt, beeinflusst Russland in einem Maße, das die EU nicht ignorieren kann.

Die Vergangenheit sah ganz anders aus: Es wurde erwartet, dass das schwache Russland die europäische Integration mehr oder weniger freiwillig als passiver Zeuge beobachten würde. Man ging davon aus, dass sich die Vereinigten Staaten um die "Hard Power" kümmern würden. Europa hingegen würde sich auf die "Soft Power" konzentrieren und die Welt mehr durch seine Vorbildfunktion als durch die von ihm ausgehende Macht formen.

Der Georgien-Krieg vor fünf Jahren war das erste Anzeichen dafür, dass sich Europa und damit Deutschland der harten Realität traditioneller Machtpolitik nicht entziehen konnten. Die jüngsten Aktivitäten Russlands in der Ukraine stellen nicht nur eine Herausforderung für die etablierte europäische Rechtsordnung, sondern auch für Europas politische Grundlagen dar.

Dem Leitbild, nach dem gegenseitiges Vertrauen das Fundament für Sicherheit in Europa ist, steht die konkurrierende Ansicht gegenüber, dass Sicherheit am besten durch die Fähigkeit aufrechterhalten wird, seine Nachbarn einschüchtern und, wenn nötig, drangsalieren zu können.

Die Europäer müssen deutlich machen, dass sie sich nicht drangsalieren lassen und mit "Hard Power" umzugehen wissen. Gleichzeitig müssen sie zeigen, dass sie an ihrem eigenen Machtkonzept festhalten, das Souveränität nicht als etwas Absolutes betrachtet, sondern vielmehr anerkennt, dass sich langfristige Stabilität und gute zwischenstaatliche Beziehungen am besten herstellen lassen, wenn die Interessen und Sorgen der Nachbarn (wozu auch Russland zählt) berücksichtigt werden. Deutschland hat die besten Voraussetzungen, um das richtige Gleichgewicht zwischen Standfestigkeit und diplomatischem Engagement zu finden.

Inzwischen ist durch den Zerfall mehrerer afrikanischer Staaten ein Vakuum entstanden, das sich auf das riesige Gebiet der Sahelzone auswirkt, und daher unsere Aufmerksamkeit erfordert. Die Sahelzone liegt nah an Europa und könnte schnell zu einem Rückzugsort für terroristische Gruppierungen werden.

Aufgrund der weiteren Verschlechterung der Lage in Syrien und Irak versinkt darüber hinaus ein großer Teil des Nahen Ostens zunehmend im Chaos, was dazu führt, dass Europa von Gebieten, in denen die Staatsmacht wenig Einfluss hat, umgeben ist.

Die Behauptung Europas als ein mächtiges Bündnis

In der heutigen Welt, deren Ordnung sich verändert hat, reicht es nicht aus, mit gutem Beispiel voranzugehen. Europa mag für viele Menschen auf der ganzen Welt noch immer eine Quelle der Inspiration sein; doch viele Regionen der Erde halten sich nicht an die europäischen Regeln.

Die Europäer, das heißt auch die Deutschen, müssen sich intensiver mit dem Thema Macht auseinandersetzen. Sie müssen darüber nachdenken, wie Macht eingesetzt werden kann, um ein Machtgleichgewicht herzustellen und zu verhindern, dass Einschüchterung Vertrauen als Grundlage der europäischen Sicherheit ersetzt. Und sie müssen darüber nachdenken, wie durch den Einsatz von Macht verhindert werden kann, dass aus einem Machtvakuum eine strategische Bedrohung wird. 

Sich auf den mächtigen Verbündeten USA zu verlassen, kann nicht mehr die einzige Antwort sein. Die USA sind nicht mehr bereit, die Führung in Krisen zu übernehmen, die keine grundlegenden amerikanischen Interessen berühren. Europa steht also vor der Wahl, sich entweder passiv an die Veränderungen anzupassen, die sich aus Ereignissen und den von anderen mächtigen Staaten getroffenen Entscheidungen ergeben, oder aber sein Umfeld aktiv zu gestalten. 

Dafür müssen die Schwachstellen des europäischen Krisenmanagements angegangen werden. In diesem Sinne sollte die Krise in der Ukraine als ein Warnsignal für die politischen Institutionen der Europäischen Union gesehen werden, so wie die Eurokrise ein Warnsignal für ihre wirtschaftspolitischen Steuersysteme war. 
Im Wirtschaftsbereich herrscht Einvernehmen darüber, dass eine wirksame politische Strategie nicht allein auf zwischenstaatlicher Ebene verfolgt werden kann. Gilt in der Außenpolitik etwas anderes, selbst wenn hier nationale Emotionen mit berücksichtigt werden müssen?

Deutschland kann in dieser notwendigen Entwicklung eine wichtige Rolle spielen und wird sehr viel glaubwürdiger sein, wenn es beweist, dass es sich politisch auf der ganzen Welt engagiert und bereit ist, Truppen nach Afrika und in andere Länder zu schicken und so einen aktiven Beitrag zu den europäischen Bemühungen zu leisten und die Vereinten Nationen zu unterstützen.

Gleichzeitig muss ein durchsetzungsfähigeres Europa bedenken, dass die internationalen Institutionen umstritten sind und die 1945 festgelegten Regeln nur schwache Unterstützung finden. Dies hat die große Anzahl der Länder, die sich in der Abstimmung über die VN-Resolution zur Ukraine enthalten haben, deutlich gemacht.

Anstelle des zukunftsorientierten Versuchs, der internationalen Gemeinschaft einen Organisationsrahmen zu geben, wird in diesen Regeln allzu häufig ein Instrument gesehen, mit dem die westliche Welt ihre Dominanz behaupten möchte.

Deutschland selbst schien sich während seiner Kandidatur für einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat bisweilen mehr mit dem Status zu beschäftigen, den es erlangen würde, als mit dem Beitrag, den es dann leisten könnte. Hinter einem aktiveren internationalen Engagement muss ein sichtbares und wirkungsvolles Bekenntnis zu den internationalen Institutionen stehen.

Wie kann sich Europa als ein mächtiges Bündnis behaupten, das bereit ist, die traditionellen Instrumente der Macht gegebenenfalls auch militärische Gewalt einzusetzen, und gleichzeitig ein Machtkonzept zu vertreten, das diesen Schranken setzen soll?

Europa muss eine schwierige Gratwanderung meistern: Es muss einerseits eine starke Haltung einnehmen und für Werte und Grundsätze eintreten, die heute noch genauso wichtig sind wie 1945, und sich andererseits an einem konsultativen Prozess aus Diplomatie und Interaktion mit der gerade entstehenden neuen Welt beteiligen.

Aufgrund seiner Geschichte, seiner relativ unbedeutenden kolonialen Vergangenheit und seines Bekenntnisses zu einer auf Regeln beruhenden internationalen Ordnung kann Deutschland in dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle spielen.

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