“Die Soldaten sind weniger motiviert als die Rebellen von Boko Haram”
“Die Soldaten sind weniger motiviert als die Rebellen von Boko Haram”
Fighting among Boko Haram Splinters Rages On
Fighting among Boko Haram Splinters Rages On
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Local hunter known as Vigilante armed with locally made gun and knife on way to support Nigerian army fighting with Boko Haram, 6 December, 2014. AFP/Mohammed Elshamy
Interview / Africa 7 minutes

“Die Soldaten sind weniger motiviert als die Rebellen von Boko Haram”

Der Aufstand der Boko Haram Rebellen hat Nigeria das gesamte Jahr 2014 über in Atem gehalten. Nicht nur haben sich die Terrorangriffe der Gruppe gehäuft, sie nahmen auch immer größere Ausmaße an. Das neue Jahr begann mit erneutem Terror, als Boko Haram Rebellen in Baga im Nordosten des Landes ein Massaker anrichteten. In diesem Interview erklärt Nnamdi Obasi, Crisis Group Analyst für Nigeria, worauf die Aufständischen abzielen, wie sie ihre Strategie veränderten, und warum die nigerianischen Regierung gegen die Rebellen so wenig in der Hand hat.

Wir veröffentlichen das Interview mit freundlicher Erlaubnis der SonntagsZeitung, wo es am 18. Januar 2015 zuerst erschien.   

Es gibt widersprüchliche Medienberichte über die Angriffe von Boko Haram im Nordosten Nigerias. Wie viele Menschen starben tatsächlich?

Niemand hat exakte Zahlen. Die Regierung spricht von 150 Opfern. Aber das Militär hat die Gegend nicht zurückerobert, weiss also nicht, wie viele in den Dörfern starben. Menschen, die geflüchtet sind, sprechen von viel höheren Zahlen. Viele versuchten, mit Booten über den Tschad-See zu flüchten und sind dabei gestorben. Einige Menschenrechtsgruppen sprechen von 2000 bis 2500 Toten. Ehrlicherweise müssen wir sagen: Es gibt keine Gewissheit.

Wurde Boko Haram in den letzten Wochen und Monaten aggressiver?

Früher griffen sie in kleinen Gruppen an, jetzt haben sie Regimentsgrösse. Sie sind motorisiert, benutzten in einem Fall einen Panzer. Boko Haram hat sich zu einer militärischen Macht entwickelt – eine, die immer brutaler wird: Sie setzen neu Frauen für Selbstmordattentate ein, zuletzt auch minderjährige. 2014 tötete Boko Haram mehr Menschen als je zuvor. Boko Haram war anfangs eine Horde Verrückter auf Motorrädern.

Wie konnten sie so stark werden?

Sie finanzieren sich mit Raub, Entführungsgeldern, Erpressung sowie Plünderung von Polizei- und Militärposten im Nordosten. Boko Haram hat aber auch ausserhalb Nigerias Unterstützung erhalten. Nach Ghadhafis Fall wurden viele seiner Waffen in die Sahara und den Sahel transportiert, einige Davon endeten in den Händen von Boko Haram. Wir haben auch Hinweise auf eine verstärkte Zusammenarbeit mit Gruppen wie al‑Shabaab in Somalia, al-Qaida und dem IS. Boko Harams zunehmende Gewandtheit ist ein Hinweis, dass sie Waffen und Training dieser Gruppen erhalten.

Welche Rolle spielen die Nachbarstaaten?

Die Kooperation zwischen Nigeria und seinen Nachbarn, insbesondere mit Kamerun, ist schwach. Solange die Grenzen so durchlässig und die Kooperation im Sicherheitsbereich so schwach ist, fungieren die Grenzen als Kanäle, durch die Boko Haram Waffen nach Nigeria bringen kann.

Besteht die Gefahr, dass Boko Haram ein Kalifat errichten wird, analog zum Islamischen Staat in Syrien und dem Irak?

Ja. Ihre Ziele haben sich über die Zeit weiterentwickelt. Wir können von der Evolution einer lokalen Gruppe zu einer mit deutlich ambitiöseren Zielen sprechen. Im letzten August hat ihr Anführer Abubakar Shekau gesagt, die Fläche unter seiner Kontrolle sei jetzt Teil eines Kalifats. Die Angriffe wurden seitdem von Nordnigeria auf Kamerun ausgeweitet. Wenn sich der Konflikt ausweitet, könnte sich das Kalifat in diese Richtung dehnen. Jetzt hat auch die Regierung von Tschad angekündigt, Kamerun «aktiv zu unterstützen». Langfristig ist es möglich, dass sich Boko Haram auch dort etablieren will.

Im Mai 2014 sagte Präsident Goodluck Jonathan nach der Verschleppung von über 250 Schülerinnen: «Diese Entführungen werden der Anfang vom Ende des Terrorismus in Nigeria sein.» Wieso hat er seitdem nichts unternommen?

Die Regierung hat Boko Haram unterschätzt und missverstanden – und vielleicht tut sie das heute noch. Für eine lange Zeit dachten Präsident Jonathans Berater, Boko Haram sei eine politische Schöpfung von nordnigerianischen Politikern, um die Regierung zu blamieren. Sie dachten, wie es Jonathan selber sagte, die Bedrohung würde «über die Zeit im Sand verlaufen». Das war offensichtlich falsch. Zudem leidet das Militär unter Defiziten, die es verunmöglichen, Boko Haram zu besiegen.

Wieso das?

Das Militär wurde nie trainiert, um einen Aufstand zu bekämpfen. Es dauert, sich darauf einzustellen. Und natürlich ist die Armee unterbesetzt und überbelastet, weil sie in 30 von 36 Teilstaaten Polizei-Aufgaben erfüllen muss. Dann ist sie nicht genügend ausgerüstet für einen Kampf in einem teilweise hügeligen Gebiet, viermal so gross wie die Schweiz. Einige Soldaten und Einheiten weigern sich zu kämpfen, weil sie schlecht ausgerüstet sind. Kommandanten klagen über mangelnde Logistik, etwa über fehlende Helikopter, mit denen sie ihre Truppen in entlegenen Gegenden verstärken und notfalls evakuieren könnten. Teil des Problems ist die Korruption im Beschaffungswesen und die schlechte Instandhaltung des Waffenarsenals. Das alles kumuliert hat den Effekt, dass die Moral des Militärs tief ist. Die Soldaten sind weniger motiviert als die Rebellen.

Was muss jetzt getan werden?

Die nigerianische Regierung muss ihre Strategie überarbeiten. Die Militäraktionen müssen effektiver werden, um Boko Harams Zerstörung von Gemeinschaften und die Massaker an Bürgern zu stoppen. Um die Herzen der Bevölkerung zu gewinnen, muss das Militär mit mehr Achtung für die Zivilisten agieren. Die Regierung muss die Entwicklung einer multinationalen Streitkraft vorantreiben, die zwischen Nigeria, Kamerun, dem Tschad und Niger Mitte 2014 beschlossen wurde. Auch gilt es, eine umfassendere Strategie zu verfolgen, die nicht nur aus Militäraktionen besteht. Die sozioökonomischen Faktoren müssen beachtet und die religiöse Indoktrination verhindert werden. Und sicher muss die internationale Gemeinschaft mehr Unterstützung liefern, militärisch und ökonomisch.

Sollte der Westen Truppen nach Nigeria schicken?

Nein, viele Nigerianer wollen keine ausländischen Truppen. Nigeria könnte von fremden Trainern, Beratern und Technikern profitieren, aber die meisten Nigerianer glauben, die Armee sollte selber kämpfen. Boko Haram hat keine Soldaten aus anderen Ländern. Also braucht auch Nigeria keine Kämpfer aus dem Westen.

Viele Menschen zeigten sich solidarisch nach den Anschlägen in Paris. Über Nigeria wird wenig berichtet. Macht Sie das wütend?

Die Menschen im Nordosten fühlen sich zutiefst enttäuscht und verlassen. Die meisten klagen, dass die Medien zu wenig über die Tragödie berichten. Nicht nur die internationalen, auch die nigerianischen, speziell diejenigen der Regierung. Sie fühlen sich dreifach aufgegeben: von der Regierung, von einem grossen Teil der nigerianischen Bevölkerung und von der internationalen Gemeinschaft.

Im Februar werden Wahlen zwischen Präsident Jonathan und dem Herausforderer Buhari stattfinden. Was bedeutet das für die Sicherheitssituation?

Für Boko Haram ist Demokratie eine Form von Heidentum, inkompatibel mit ihrer Auslegung des Islam. Sie werden ihre Attacken intensivieren, um die Wahlkommission davon abzuhalten, Wahlen im Nordosten durchzuführen. Die Angst vor Angriffen hat die Parteien von Kampagnen abgehalten. Die Wahlkommission hat bereits bestätigt, dass Wahlen in einigen Teilen im Nordosten nicht durchgeführt werden können. Auch abgesehen von Boko Haram: Spannungen zwischen den grossen Parteien und auch entlang der religiösen und regionalen Linien deuten auf ein hohes Gewaltrisiko vor, während und vor allem nach den Wahlen hin.

Können Sie das ausführen?

Nigeria ist religiös und regional stärker polarisiert als je zuvor, teilweise als Nebeneffekt von Boko Haram. Präsident Jonathan ist aus dem hauptsächlich christlichen Nigerdelta, Herausforderer Buhari aus dem vor allem muslimischen Norden. Viele im Delta insistieren, dass Jonathan weitermachen muss. Sie sagen, dass das Öl, welches das Land finanziert, aus ihrer Region komme. Also wollen sie auch den Präsidenten stellen. Ich war im Oktober dort, die Menschen sagten mir, wenn Jonathan die Wahlen verliert, wird es Attacken auf die Öl-Pipelines geben. Im Norden ist die Nachricht dieselbe: Wenn Buhari verlieren wird, gibt es Gewalt. Diese kompromisslose Rhetorik und Gewaltdrohungen von beiden Seiten zeigen, dass das Land in eine noch gefährlichere Situation schlittern könnte.

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