EU-Verteidigungspolitik nach dem Brexit: Deutsche Vorsicht und französische Entschlossenheit
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Op-Ed / Europe & Central Asia 6 minutes

EU-Verteidigungspolitik nach dem Brexit: Deutsche Vorsicht und französische Entschlossenheit

Wie geht es nach dem Brexit weiter mit der EU? Deutschland und Frankreich müssen gemeinsam für die Sicherheit Europas sorgen. Für Deutschland bedeutet das höhere Verteidigungsausgaben - und mehr Auslandseinsätze.

Wie sollte sich die Europäische Union nach dem Brexit-Schock reformieren? Hierzu beantwortet Jean-Marie Guéhenno drei Fragen von SPIEGEL ONLINE:

1. Was ist das Problem?

2. Wie könnte eine Lösung aussehen?

3. Wer müsste dafür was tun?

1. Was ist das Problem?

Kann die Europäische Union (EU) ohne das Vereinigte Königreich strategisch einflussreich sein? Im Jahr 2015 hatte Großbritannien das größte Militärbudget der EU, gefolgt von Frankreich und Deutschland. Es verfügt über erstklassige Rüstungsunternehmen, die auf modernste Technologien zurückgreifen. Es ist eine von nur zwei europäischen Mächten, die ein nukleares Abschreckungspotential besitzen, es hat eine Armee, die sich durch signifikante Einsatzfähigkeit auszeichnet. Als Soft Power hat das Vereinigte Königreich als eines von wenigen europäischen Ländern das 0,7-Prozent-Ziel für Entwicklungshilfe erfüllt.

Ganz gleich, wie man es betrachtet, es besteht kein Zweifel, dass Großbritannien einen erheblichen Beitrag zum strategischen Einfluss Europas leistet. Es gibt auch keinen Zweifel daran, dass der britische Austritt und das Risiko eines weiteren Zerfalls der EU einen potenziell vernichtenden Schlag für einen der Pfeiler der europäischen Soft Power bedeutet: ihre Vorbildfunktion für eine erfolgreiche Integration.

Gleichzeitig hat Großbritannien als EU-Mitglied die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Verteidigung stets so weit wie möglich zu begrenzen versucht. Die Briten priorisierten die Nato und die bilaterale Zusammenarbeit mit Frankreich (die Lancaster House Verträge von 2010) auf Kosten der EU und behinderten die Entwicklung der europäischen Verteidigungsagentur.

Und nicht immer hat Großbritannien seine eigenen Verteidigungskapazitäten sinnvoll eingesetzt. Im Irakkrieg kämpfte es - mit verheerenden Folgen - an der Seite der USA. In Libyen drängte es die USA gemeinsam mit Frankreich in einen Krieg, der zwar Gaddafi stürzte, dessen Endergebnis aber hochproblematisch ist. Obwohl das Vereinigte Königreich also zweifellos ein wichtiger Bestandteil der europäischen strategischen Gleichung ist, war es bei der Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Strategie doch selten hilfreich.

Doch kann sich die EU bei der Gewährleistung seiner Sicherheit nicht allein auf Dialog, Entwicklungshilfe und wirtschaftliche Beziehungen verlassen. Für eine Weile hatte sich die EU eingeredet, mit Soft Power allein könnte sie Stabilität exportieren und eine friedliche und stabile Umgebung schaffen.

In der heutigen Welt kommt es allerdings auf militärische Macht an. Freilich muss diese zur Unterstützung einer gut durchdachten politischen Strategie eingesetzt werden - das Chaos in Libyen ist ein Beispiel dafür, was geschieht, wenn europäische Länder ihre militärische Macht nutzen, ohne auf die politischen Nachwirkungen zu achten.

Die internationale "Crisis Group" warnt in einem jüngst veröffentlichten Bericht vor solch einem sicherheitspolitischen Ansatz und betont die Bedeutung einer politischen Strategie, die sich auf Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten und effektive Diplomatie stützt. Aber eine politische Haltung, die nicht durch militärische Macht gesichert ist, bleibt hohl: Putins Gebaren in der Ukraine, der IS im Nahen Osten und in Nordafrika sowie die wachsende Instabilität in der Sahel-Zone mit den damit verbundenen Risiken unüberschaubarer Migrationsströme nach Europa sollten als Weckrufe wirken.

Diese wachsende Bedrohung vollzieht sich zu einer Zeit zunehmender Ungewissheit über das künftige Engagement der USA in Europa und dem Rest der Welt. Selbst wenn Donald Trump nicht der nächste Präsident der Vereinigten Staaten wird, spiegelt sein Diskurs doch die sich ändernde Stimmung unter den Amerikanern wider, die - ebenso wie die Europäer - versucht sind, sich hinter ihren Grenzen zu verstecken, Auslandseinsätze mit Vorsicht zu betrachten und sich stattdessen auf ihre eigenen nationalen Herausforderungen zu konzentrieren.

Dem Westen und Europa ist unklar, wie sie die Welt stabiler und demokratischer machen könnten. Wenn sie allerdings aufgeben, die Welt gestalten zu wollen, dann werden sie von der Welt geformt - und das sollte angesichts seiner Nachbarschaft insbesondere Europa zu denken geben. Die EU wird nicht gedeihen, wenn die Welt grundlegend von dem Modell abweicht, das sie geschaffen hat. Die Beantwortung der Frage, wie die EU ohne die volle Beteiligung des Vereinigten Königreichs die strategische Schlagkraft finden kann, um eine solche Entwicklung zu verhindern, ist ihre dringendste strategische Herausforderung.

2. Wie könnte eine Lösung aussehen?

Die negativen Folgen des Brexit liegen auf der Hand. Aber die EU muss auch die Chancen ergreifen, die ihr der Brexit bietet. Zu oft hat Großbritannien als bequeme Entschuldigung dafür gedient, dass es bei den europäischen Institutionen und der gemeinsamen Verteidigung nicht voran ging.

Der britische Widerstand gegen die Entwicklung einer gemeinsamen Verteidigung diente als Alibi für die Europäer, die militärische Sicherheitskomponente des "umfassenden Ansatzes" zu minimieren, welcher zu Recht Kernstück des deutschen Weißbuchs zur Sicherheitspolitik und der kürzlich von der Hohen Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Mogherini, ausgegebenen globalen Strategie ist.

Die Nato hat als ein weiteres Alibi gedient - als ob eine starke Nato ohne eine starke EU existieren könnte. Die verbliebenen EU-Mitglieder müssen aufhören, sich hinter solchen Alibis zu verstecken, und zeigen, dass sie es mit der Verteidigung als einer notwendigen Ergänzung zu einem breiteren politischen Ansatz ernst meinen. Die effektive Umsetzung einiger gut ausgewählter Projekte wird nicht ausreichen, allen Herausforderungen zu begegnen, mit denen Europa konfrontiert ist, sie kann aber dazu beitragen, Impulse zu setzen und die Grundlage für eine glaubwürdige europäische strategische Haltung zu schaffen. Einige Maßnahmen sollten langfristig angelegt sein, andere ein schnelles Signal dafür setzen, dass Europa Sicherheit bietet und kein Quell der Unsicherheit ist.

Unter den längerfristigen Projekten hat die Integration der europäischen Rüstungsindustrie höchste Priorität. Die Regierungen müssen damit aufhören, ihre nationalen Lieblinge zu hätscheln und stattdessen den Ausbau europäischer Rüstungsunternehmen vorantreiben, die mit den Ressourcen ausgestattet sind, echte Kompetenzzentren zu schaffen. Eine solche Konsolidierung wird einfacher, wenn die Europäische Verteidigungsagentur befugt wird, eine größere Rolle bei der Beschaffung von Rüstungsgütern zu spielen, damit Beschaffungszyklen harmonisiert werden, sodass ein europäischer Verteidigungsmarkt mit einem wirksamen Schutz der strategischen Kapazitäten sowie eine europaweit gesteuerte Exportpolitik entstehen können.

Zu den kurzfristig zu realisierenden Projekten zählt der Aufbau eines integrierten europäischen Grenzschutzes, der über die Koordination und Unterstützung durch Frontex hinausgeht und auch eine gemeinsame Überwachung der Seegrenzen umfasst. Dies würde der europäischen Öffentlichkeit zeigen, dass die EU ihre Außengrenzen sichern kann, während seine Binnengrenzen offen bleiben.

Die EU kann sich jedoch nicht auf den Schutz ihrer Grenzen beschränken. Wenn sie eine ernsthafte strategische Rolle spielen will, muss sie in der Lage sein, ihre militärische Macht auch kurzfristig jenseits der eigenen Grenzen einzusetzen. Diese Fähigkeit wird aber wenig nützen, wenn es zu lange dauert, sich über ihren tatsächlichen Einsatz zu einigen - in diesem Fall wären Ad-hoc-Vereinbarungen zwischen willigen Staaten die praktischste Option. Eine kleinere Gruppe von gleichgesinnten EU-Mitgliedern sollte deshalb parallel sowohl die Kapazitäten als auch die Entscheidungsgremien für eine effektive Entsendung gemeinsamer Kräfte entwickeln.

Solche Bemühungen innerhalb der EU sollten so konzipiert werden, dass sie die Möglichkeit lassen, von Fall zu Fall auch das Vereinigte Königreich einzubinden. Die beste Chance dafür, dass die Briten letztlich ihre Entscheidung überdenken, ihren eigenen Weg außerhalb der europäischen Institutionen zu gehen, ist die Entwicklung eines erfolgreichen, aber nichtantagonistischen Europas. Das war es, was das Vereinigte Königreich 1973 davon überzeugt hatte, beizutreten, nachdem das französische Veto aufgehoben worden war. Die EU muss die Tür für Großbritannien offen halten, während es gleichzeitig mit seiner Entwicklung fortschreitet.

3. Wer müsste dafür was tun?

Frankreich und Deutschland, die beiden EU-Länder mit den stärksten Armeen nach dem Ausscheiden Großbritanniens, werden eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der EU-Strategie spielen. Andere Mitgliedstaaten werden ihr Verhalten genau beobachten, und ihr eigenes Engagement wird weitgehend davon bestimmt werden, was Deutschland und Frankreich tun - und weniger von Initiativen der europäischen Institutionen. Aber damit eine deutsch-französische Initiative erfolgreich sein kann, muss Frankreich deutscher werden - und Deutschland französischer.

Deutschland wird möglicherweise besorgt darüber sein, dass es als größte Volkswirtschaft in der EU mit seinen Verteidigungsausgaben unweigerlich Frankreich überholen wird, wenn es den gleichen Prozentsatz seines Bruttoinlandsproduktes einbringt, nämlich die auf dem Nato-Gipfel von 2014 vereinbarten 2 Prozent. Und da Frankreich zusätzliche Kosten für seine nukleare Abschreckung zu tragen hat, wird die Kluft zwischen den konventionellen Kapazitäten Deutschlands und Frankreichs noch größer sein als jene zwischen den Verteidigungsausgaben.

Doch Deutschland sollte sich nicht scheuen, eine proaktivere Rolle zu übernehmen, die auch Auslandseinsätze beinhaltet - vorausgesetzt, diese sind rechtlich abgesichert. Frankreich sollte eine pragmatische, aber prinzipientreue Haltung einnehmen, die eine bessere Lastenverteilung unter den Europäern ermöglicht. Die französische Afrika-Politik sollte weiter an ihrer positiven Entwicklung arbeiten und ihren Abstand zu Staatschefs vergrößern, die wenig Rücksicht auf ihr Volk nehmen.

Eine neue europäische Außen- und Sicherheitspolitik, die französische Entschiedenheit und deutsche Vorsicht kombiniert, könnte positiv wirken: Sie könnte eine Warnung an Putins Russland schicken, sie könnte die Wiederholung der Fehler von Libyen vermeiden, und sie könnte die Last der Stabilisierung von Ländern wie Mali oder der Zentralafrikanischen Republik auf mehrere Schultern verteilen.

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